Desensibilisierung

Die Zeiten sind hart. Deutsche Schüler sind laut Studien spitze. Im Rauchen. Man muß stark sein, durchhalten, sonst bleibt man auf der Strecke. Wer will schon zu einer gescheiterten Existenz werden. Ich konkurriere seit Jahren gegen mindestens hunderttausend die auch auf meinen Job scharf sind und dann auch noch gegen das aufstrebende Osteuropa und gegen China sowieso. Puh, wie soll ich das nur schaffen? Hilft nichts. Alle Kraft zusammenkratzen und durch! Mir geht es so schlecht. Was ist das nur für ein beschissenes Leben? Man muß schon positiv denken, um nicht kaputt zu gehen. Was positiv ist bestimme ich. Ich will ein neues Auto. Ich muß es mir nur genau vorstellen, dann kreuzt es schon meinen Weg und es wird Wege in meine Realität finden. Jeder macht sich schließlich seine Realität selbst, oder, hab ich nicht recht? Hab ich nicht recht? Hab ich nicht recht?

Schnitt. Das ist die Frage ob jemand immer recht hat. Was ist positives Denken? Ist es nicht oft als Spiritualität getarnter Materialismus? Wer leidet kann sein Leben nicht genießen. Wer die Ursachen für sein Leid nicht versteht kann sie nicht beheben. Wer der Überzeugung ist sein Leid habe keinen Grund findet das Leben ungerecht. Wer zur Überzeugung gelangt, daß er leidet, weil er nicht genug positiv denkt, der gerät in eine Falle aus der er sich möglicherweise nicht mehr so leicht selbst befreien kann. Er beginnt positiv zu denken aber behebt die wirklichen Ursachen für sein Leid nicht (entschuldigt Positivdenker, ich bin parteiisch). Ich kenne keinen einzigen Menschen bei dem das positive Denken mehr als eine kaschierende Funktion hat. Und ich kenne keinen einzigen Positivdenker, der diesen Gedanken an sich heranlassen mag, denn er hält ihn offenbar für negativ. Was wahr ist spielt keine Rolle mehr, sondern einzig was man sich eingesteht. Ich denke Wahrheit gibt es tatsächlich. Positivdenkern geht unheimlich viel schief, weil sie ja die Realität nicht mehr erfassen wollen. Dennoch sind sie einer ganz anderen Meinung. Einmal nehmen sie die Mißgeschicke ja nicht richtig wahr, da sie negative Gedanken ("Oh, das war jetzt ein Mißgeschick!") nicht an sich heranlassen wollen und Geschick dementgegen als Erfolg werten (klassisches Entstehen von abergläubigem Verhalten im Tierversuch). Ein anderes Mal glauben sie, daß negative Gedanken ihrer Mitmenschen ihre Mißerfolge verursachen würden (Vorstufe zur Paranoia; Erstaunlich, daß sie davor nicht ihr eigenes positives Denken schützt!). Letzteres ist freilich nicht auf alle Positivdenker zu verallgemeinern, da es wohl der Angewohnheit eines bestimmten Menschen geschuldet ist die Schuld nicht bei sich zu suchen. Solcherart gesinnte Menschen zieht freilich die Lehre von positiven Denken in gewisser Weise in besonderer Art an.

Es gibt Positivdenkströmungen aus christlichen oder aus sonstigem Zusammenhang. Letztlich ist das Positivdenken ein Phänomen das verschiedene Gesinnungen gerne sozusagen als weltanschaulicher Krankheitserreger befällt. Erst kommt die Nichtkenntnis der Ursachen irgendwelcher Probleme, dann die Überzeugung sich durchsetzten zu müssen gegen die Widerstände die man in sich selbst auf verschiedene Weise geschaffen hat (zB durch Drogenkonsum und der Unlust einzusehen, daß diese einen nicht weiterbringt sondern nur in den seelischen Abgrund reißt). So kommt es zur Desensibilisierung - ein Wille ist da, aber nicht die Umsicht, die Umsicht gibt die Kontrolle über das Tun an den Willen ab. Das ist der halbe Schritt zu Gedankengängen die dem positiven denken bereits verwandt sind. Wenn dann das positive denken selbst an den Menschen herantritt kann es sein, daß die Disposition in diesem Menschen zum chronischen Ausbruch des positiven denkens in ihm führt.

Ich halte die kritische Vernunft (nicht nach Kant), besonders für religiöse Menschen, für einen unverzichtbaren Begleiter. Die kritische Vernunft ist ein Licht im Menschen auf das er nicht völlig bei seiner Suche nach Wahrheit verzichten sollte. Freilich muß man sie auch nicht überbewerten, vor allem nicht im heute gebräuchlichen Sinne (was ich nicht beweisen kann, das existiert für mich nicht). Kritische Vernunft ist ein Teil von Sensibilisierung, die notwendig ist um die Wahrheit zu erkennen, die das Universum zusammenhält (und die verschiedenen Bewußtseinssphären der egozentrischen Denker, die sich sonst wohl kaum noch in ihrer Unterschiedlichkeit irgendwie begegnen könnten). Während Positivdenker einen großen Denkwall um sich herum aufschütten, über den sie immer weniger von der Außenwelt sehen können bedeutet die Sensibilisierung eine wahrhaftige und aufmerksame (vor allem auch selbstkritische) Betrachtung des eigenen Lebens und seiner Umwelt, was bedeutet den Denkwall (nicht nur aus systematisch positivem Denken sondern auch aus Vorurteilen und überprüfungsbedürftiger Annahmen und dergleichen noch weiteres) möglichst immer weiter abzubauen zugunsten von freier Sicht.

Positives Denken halte ich für gefährlichen Okkultismus, auch und gerade wenn Christen dem anhängen. Es wirft den Menschen auf sich und seine Irrtümer zurück und zementiert diese, indem der Mensch sie als angeblich positiv ansieht. Nach meiner Beobachtung wird die Einstellung "positiv denkender" Menschen erstaunlicherweise negativer auch im Sinne des positiven Denkens selbst. Reifes geistiges Verhalten nimmt bei allen Positivdenkern die ich kenne offensichtlich ab. Das liegt offenbar daran, daß sie sich mit der Zeit selbst durch ihre angebliche Heilsideologie psychisch selbst zerfleischen. Mit zunehmendem Abstieg wird ihr Bedürfnis nach Missionierung noch nicht befallener Menschen größer, da es ihnen neue Selbstbestätigung verspricht gegen die aus ihrer Perspektive arrogante und unerleuchtete Mitwelt. Teilweise denken sie, sie könnten ihr Gedanken nach Belieben steuern und laufen gleichzeitig in dieser Hinsicht immer mehr aus dem Ruder und lassen sich gehen oder erzählen fast nur noch wirres Zeug, das am nächsten Tag auch das genaue gegenteil von dem sein kann das sie am Vortag noch vertreten hatten. Oft stellen Außenstehende eine erstaunliche Kraftlosikeit bei Befallenen fest, sowie die erstaunliche Neigung anderen schlechtes zu wünschen um sich selbst dadurch aufzuwerten (bei mir Positivdenkenr geht das alles gut und bei dir geht das schief, woran das wohl liegt du Unerleuchteter?). Das alles sind Symptome des fortschreitenden oder fortgeschrittenen Positivdenkens, dessen Grundirrtum wohl wie bereits erwähnt die Vertauschung der offenen Umsicht mit dem eigenlichtigen Willen des Menschen. So ist Positivdenken eine nichtstoffliche Droge indem es ähnlich wirkt: Verringerung der Außenwahrnehmungsqualität gegen vorübergehende teilweise Steigerung des Selbstgefühls dadurch = Desensibilisierung (Wenn auch manche Junkies genau das Gegenteil annehmen, da sie ihre Sensibilität eben durch ihr Sucht zerrüttet haben. - der Mensch hat alles in sich was er zu seiner Entwicklung benötigt. Was er nicht ohne irgendwelche Drogen erreichen kann, das ist für ihn noch nicht gut, da er die Voraussetzungen zu diesen Entwicklungsschritten noch nicht besitzt. Wenn er hier wieder aus seinem Willen sich entscheidet nicht an sich zu arbeiten, sondern "schlauer" zu sein, dann wird er auch den Schaden in sich wieder begleichen müssen letztlich ohne einen Vorteil gehabt zu haben. Das an die Fraktion der "Bewußtseinserweiterer" mithilfe von Drogen.):

Positives Denken macht krank!

Das mag vielleicht manchem einseitig vorkommen, der unter positivem denken eine positive Grundeinstellung versteht. Dagegen ist nichts zu sagen. Positives denken als weltanschauliche Haltung geht jedoch davon aus, daß die Ursache für das einem Menschen widerfahrende in seinem Denken begründet liegt. Wenn ich keinen Porsche habe, dann liegt das an meinem Denken und pardon (ich sag ja ich bin parteiisch wie jedermann) das ist falsch oder eine zeitgemäße Formulierung für gewissermaßen magisches Denken vergangener Zeiten. Nur werden nicht mehr direkt Geister beschworen, sondern das eigene Denken "ausgerichtet", das eigene Leben "programmiert". Sprüche wie "Herr gib mir nicht das was ich will, sondern das was gut für mich ist." mögen Positivdenkern nichts sagen, sie sind ihr eigener Gott, ihre eigene höchste Instanz, indem sie selbst für sich gemäß ihrer Erkenntnis oder Nichterkenntnis über Gut und Böse richten. "Wenn mir etwas wehtut, dann ist das negativ. Ich Positives in mir schaffen." Ob es einen Grund hat, daß etwas wehtut (außer mangelndem positivem denken) ist völlig unwichtig geworden. Ob Gott ihm damit etwas mitteilen will ist keine Frage mehr die im positivem denken eine Rolle spielt. Man ist ja selbst Gott (auch im christlichen Kontext) und an keine übergeordneten Gesetze gebunden außer denen die das positive denken selbst stellt. Mediale Unterrichtungen zum positiven denken zeigen wer u.a. daran Interesse hat (das ist wohl ein Thema für sich).

Es gibt gewissermaßen eine Verwandtschaft zwischen Selbsthypnose und positivem denken. Ein hypnotisierter Mensch der meinetwegen als ein Ziel seiner Hypnose hat einen Frosch zu sehen, der sieht auch wirklich einen Frosch während andere Leute im gleichen Raum durchaus keinen Frosch bemerken. Nun sagt der Positivdenker/ Selbsthypnotiseur, daß es vielleicht ja den Frosch wirklich quasi in einer anderen Dimension in die er sich versetzt habe wirklich gegeben habe. Sicherlich, wenn ich davon träume auf eine Bergspitze zu kraxeln könnte ich auch sagen, daß ich wirklich auf diesem Berg war. Das ist alles eine Sache der Definition des Realitätsbegriffes. Eine andere Frage ist freilich ob sich die Realität selbst um die Definitionen von Menschen kümmert. Es dürfte wohl eher ein seltener Ausnahmefall sein, wenn ein anderer Mensch noch den Frosch unseres Selbsthypnotiseuers/Positivdenkers sieht. Wahrscheinlicher wäre schon, daß beide einen Frosch sehen aber nicht wissen wo der andere seinen Frosch gerade lokalisiert. Selbsthypnose ist per se also tendentiell ein wohl eher einsames Geschäft (jedenfalls solange eine telephatische Verbindung zu Mithypnotisierten/-positivdenkern fehlt die wohl nachhaltig eher selten auftreten dürfte.). Nun kann man natürlich sein eigenes Erleben als Mittelpunkt des Seins definieren. Man kann auch den Mond als den Punkt definieren um den alles weitere kreist. In letzterem Beispiel sind dann die Umlaufbahnen natürlich etwas schwieriger zu berechnen und in ersterem Beispiel im übertragenen Sinne auch.

Positivdenker sind oft in ihrer Gefühlswelt arg eingeschränkt. Sie müssen ja immer die Kontrolle über die angeblich weltenrelevante Tynche ihres äußerlichen Inneren behalten. Ich kenne keinen Positivdenker bei dem ich mal das Gefühl habe, daß er ganz bei mir ist in einem wie auch immer gearteten Kontakt. Da ist immer dieser Wall um ihn, der ihn stark begrenzt (obwohl seine angewandte Ideologie ihn doch eigentlich freimachen soll). Oft ist eine Verwandtschaft zu trainiertem Verhalten (Motivations-/"Erfolgs-" training) zu erkennen (Wenn ich laut rede fällt mir der Erfolg nur so zu, da ich zeige, daß ich einen Willen habe, etc). Es ließe sich sicher noch manches mehr feststellen (zB daß kein "vernünftiges" Gespräch mit ihnen möglich ist, was aber kaum auffällt, da ja mit fast niemandem ein vernünftiges Gespräch möglich ist.), jedoch soll das mal genügen als allzeitige Warnung sich von soetwas wie "Positivem Denken" von der inneren Sensibilität ablenken zu lassen, die notwendig ist, um sich ein Bild von der Welt zu machen, in der man lebt und ebenso notwendig um auf dieser Grundlage Herausforderungen zu meistern. Es ist die Frage was dabei herauskommt wenn beispielsweise ein Chirurg ein paar Tierchen durch Selbsthypnose "angeschafft" hat und dann eine Operation durchführt während ihm seine Haustiere überall herumhopsen. Also ich möchte da denn lieber nicht auf dem Tisch liegen...