Woher kommt sie nur, die Bitterkeit?

Wir befinden uns in einem Land, dessen dinglicher Reichtum jeder Beschreibung harrt. Man könnte sagen: "Was für ein glückliches Land! Wie fröhlich und glücklich, dankbar und weise müssen seine Bewohner sein!" Doch wenn man sich die Leute so anschaut, wird man mehr Unglückliche finden, als Glückliche, mehr mißmutige Minen, als wache und offenherzige Gesichter. Was ist los?

"Da ist einer frisch, fröhlich, stark und gesund. Seine bloße Gegenwart flößt Freude ein, seine Augen strahlen Zufriedenheit und Wohlbehagen aus. Er ist ein Bild des Glücks. Da kommt ein Brief. Der Glückliche sieht ihn, öffnet ihn, liest ihn. Im gleichen Augenblick verändert sich seine Mine. Er erbleicht und wird ohnmächtig. Wieder bei Sinnen, weint er, ist aufgeregt und seufzt, rauft sich die Haare, erfüllt die Luft mit Wegklagen und scheint von schrecklichen Krämpfen befallen. Du Narr, was hat dir das Papier getan? Welches Glied hat es dir ausgerissen? Zu welchem Verbrechen hat es dich verleitet? Was hat es in dir verändert, um dich in so einen Zustand zu versetzen?"   J.J. Rousseau (1712-1778); "Emile", Kapitel "Wahres Glück und Unglück"

Was hat dir das Papier getan? Zivilisation kann etwas Segensreiches sein. Können die Verbitterten unter uns nur nicht mit der Technik der Hochkultur umgehen? Fehlt es an Erhabenheit über die Abstraktionen? Wenn man die vielen chaotischen und unbedarften Anwendungen von Technologie betrachtet, dann scheint ebendas offensichtlich. Hochmut kommt vor dem Fall heißt es. Ist es der ewige Gang der Dinge, daß Menschen hoch hinaus wollen, sich ehrgeizige Ziele setzen, ihren Verstand mit positivem Denken kleinmahlen, um nur ihren Hochmut und dessen Symbole beibehalten zu können und mehr und mehr Lebenskraft, Lust, Liebe einbüßen und so unausweichlich auf dem breiten Weg der Welt, in die innere Dunkelheit zu fallen? Woher kommt die Bitternis?

Ein Griff in die Diskussion um die britische Schule "Summerhill" und ihren Gründer A.S. Neill:
"CONTRA: Neill ist ein Idylliker aus der pädagogischen Provinz. Er verkennt seine Hauptaufgabe als Erzieher, nämlich seine Schüler auf ihr späteres Leben nach der Schulzeit vorzubereiten; dann müssen sie den Anforderungen der Gesellschaft genügen, oder sie werden Versager.
PRO: Für die sogenannten Anforderungen der bestehenden Gesellschaft können die Kinder nichts. Neill hat erkannt, daß unsere moderne Leistungsgesellschaft emotional gestört, krank und lebensfeindlich ist. Summerhill macht seine Schüler immun gegen die Ansteckungsgefahren der "Zeitgeistkrankheit".
CONTRA: Genau darin liegt Neills Illusion. Er flieht vor dem revolutionären Umsturz der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse in das private Glück im Winkel. Die Summerhillians werden später meist Elfenbeinturmbewohner: Fotografen, Tänzer, Schauspieler, Maler, Schriftsteller, Musiker, Bühnenbildner und - meinetwegen - Mathematikprofessoren."
rororo Sachbuch; "summerhill: pro und contra"; 1971

Mir scheinen hier drei Meinungen vorzuliegen, die gewisse Mustergültigkeit haben. Meinung 1: "Der Sinn des Lebens ist, den Anforderungen der Gesellschaft zu genügen."; Meinung 2: "Der Sinn des Lebens ist das Leben an sich und dessen Entfaltung im Menschen."; Meinung 3: "Der Sinn des Lebens ist Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen." Ich mache keinen Hehl aus meiner Zustimmung zu Meinung 2 und wähne mich dabei in Gesellschaft mit Rousseau. Doch Lebendigkeit will sich auch betätigen; das ist aber etwas ganz anderes, als die Auffindung eigener Fehler in der "Gesellschaft". Denn zufrieden wird man nur, wenn man bei sich selbst anfängt, so wie es vor der eigenen Tür nicht sauber wird, wenn man nur vor fremden Türen kehrt, um sich als Saubermann hervorzutun. Solche Saubermänner sind aber oft gerade die Bitteren, denn sie stellen fest, daß sie sich mühen können für das Wohl der Gesellschaft und diese nur mit Undank reagiert und sich nichts zum Besseren wendet. Doch die Bitternis des Saubermanns ist nur ein Zeugnis seiner mangelnden Liebe und seiner Inkonsequenz gegenüber dem Guten, denn er bleibt erfolglos, weil die Menschen spüren, daß er nur für seine Eitelkeit einen Moralapostel markiert und die Menschen die Heuchelei fliehen wie die Pest, sofern sie nicht selbst Heuchler sind, denn Gleiches zieht ja bekanntlich Gleiches an sich. Nicht den Worten des Verstandes entspringt wahre Lebendigkeit und Freiheit, sondern den Worten der Liebe und der Gottheit. Wer das aber nicht beherzigt, der macht seine Tore weit für die Bitterkeit und die Resignation der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit.

Bitterkeit, was ist das? Zeigt nicht der Bittere, Vollkommen sein wollende, eigentlich nur durch die Bitternis seine Unvollkommenheit, die darin besteht, unbedingt vollkommen sein zu müssen, ohne diese Unvollkommenheit selbst zu erkennen? Ist Bitterkeit eine Krankheit? Bitterkeit als der Ausschlag der Unfähigkeit, jemals mit irgendetwas zufrieden sein und bleiben zu können? Wut und Gewalt als ihrer Steigerung? Ist dieser lächerliche Stolz, "erwachsen" zu scheinen oder zu sein, nicht die Weigerung die kindische Unreife abzulegen und ein reifer Mensch zu werden? Ist dieses Verständnis vom Erwachsensein nicht ein hilfloser Versuch, sich vor der Erkenntnis zu bewahren, daß man nur ein Mensch ist, wie jeder andere auch? Erwachsensein als die juristische Mündigkeit, die einem erlaubt, all seine kindischen Wünsche nach eigener Großartigkeit auszuleben ohne den Einspruch der Eltern, mit den Möglichkeiten eines (in der Regel) kräftigen Körpers und der Freiheit mit allem Geschäfte zu treiben um den Profit daraus in neues Spielzeug umzusetzen? Erwachsensein als somatisches, körperliches Phänomen? Und die Bitterkeit als das Schmollen des beleidigten Kindes, dem keiner mehr zuhört, wenn es im Kaufhaus vor dem Regal mit dem geilsten Spielzeug eine Heulshow zum Besten gibt, um sein Elter gefügiger zu machen? Bitterkeit als Kapitulation vor dem Eintritt in menschliche Reife? Bitterkeit als sich klammern an das unbedingte Bedürfnis, das beste und tollste Kind in der Straße zu sein?

Was macht denn das Kind aus und was den Menschen? Gibt es nicht tragische Verwechselungen von grundmenschlichen Eigenschaften - wie Offenherzigkeit, Ehrlichkeit, leidenschaftliche Hingabe, feste Liebe, die schnell vergessen kann - mit dem was der Unerfahrenheit und Minderreife eines Kindes zugerechnet wird. Ist es nicht seltsam, daß viele Eigenschaften, wie Lüge (von Lücke!), persönliche Aufwertung des Selbstwertes durch Dinge und damit verbundenes Abdriften in irreale Traumwelten, äußerste Wutausbrüche bei der öffentlichen Konfrontation mit eigenen Schwächen und Unvollkommenheiten, wirklich der Unreife eines Kindes zuzurechnen sind, aber tatsächlich oft als typisch erwachsen wahrgenommen werden, nur weil sie nicht mehr in kindlicher Unbeholfenheit ausgeführt werden? Ist demnach Erwachsensein ein Begriff für die formale, stilistische Vervollkommnung kindlicher Unreife? Der stolze Erwachsene als verkümmertes Kind? Die Lebendigkeit der Kinder soll als Antwort genügen.

Ist also die Bitterkeit ein Zeichen kindischer Unzulänglichkeit? Sind wir umgeben von Menschen, die keine fruchtbare Kindheit genießen konnten, nicht genug Zuwendung oder so bekamen, um sich als Keimling eines Menschen ausreichend zu entfalten und deshalb kümmerlich bleiben mußten? Oder gibt es doch ein Bitterkeits-Gen? (- das ist ein Scherz) Was sind die Ursachen dafür, daß sich eine unfassliche Menge von Menschen weigert von ihrer kindischen Traumtänzerei loszulassen? Was kann es sein, das ansonsten intelligente Menschen meinen macht, zum Glück sei es vor allem notwendig, sich in gewissem Intervall eine neue Geschirrspülmaschine zu kaufen? Und was kann es sein, das diese Menschen noch dazu nicht merken läßt, daß sie sich vielleicht deswegen oft - wenn gerade mal zufällig etwas Zeit ist, um einen eigenen Gedanken zu fassen - so komisch wehmütig fühlen, weil sie irgendwie in ihrem Leben die falschen Prioritäten gesetzt haben? (Ja, da bringt es auch nix mich persönlich zu mobben, nur weil ich das mal offen ausspreche) Ist vielleicht die Ursache dafür, daß irgendwie eigentlich fast nur Menschen um unsere Kinder sind, die im Pro-und-Contra-Summerhill-Zitat entweder Meinung 1 oder Meinung 3 anhängen? Woher soll denn ein Kind wissen, daß es vielleicht einfach reicht, ein Mensch zu sein und es in nichts nötig ist, seinen Nutzen für irgendetwas zu erweisen, um irgendsoetwas wie eine gesellschaftliche Existenzerlaubnis zu bekommen? Und wo vor allem soll ein Kind die Gelegenheit haben, ein Mensch zu werden, wenn sich irgendwie doch immer nur alles darum dreht, daß jeder selbst neues Spielzeug einheimsen möchte und deswegen irgendwie leider keine Zeit hat, um was Schönes mit anderen Menschen zu machen, ohne, daß nach drei Stunden wieder das Handy klingelt und leider etwas unheimlich Wichtiges schnarrt? Ist es nicht auch deswegen scheinbar so toll, selbst wichtig zu sein und ganz viel Spielzeug zu haben, da man irgendwie so eine sehr zweifelhafte Hoffnung haben kann, es kommt mal wer und sagt zu einem: "Hey, du hast aber einen tollen Benz, komm laß uns spielen!" Kontaktaufnahme via Spielzeug - und Spielzeug als Ersatz eines reifen menschlichen Vorgehens, wie sich selbst jemandem anzuvertrauen: "Mit mir spielt keiner, willst du mit mir spielen?" aus Furcht vor Zurückweisung. Die seltsame Strategie vieler Erwachsener ist dann, sich selbst abzuschirmen und möglichst keine Zeit mehr für Enttäuschungen zuzulassen und so scheinbar wichtig zu werden. Leider - und das ist eine der fundamentalen menschlichen Tragödien - braucht einfach kein Schwein wichtige Menschen, das heißt für die Gesellschaft sind wichtige Menschen nur wichtig, weil es wichtige Menschen gibt, so wie es offenbar Armeen geben muß, weil es Armeen gibt - und das Potential, daß sie auch neu entstehen. Wer aber sich beispielsweise nicht mehr traut, sich wem anzuvertrauen, der muß ja zwangsläufig verbittern! Es kommt nicht von ungefähr, daß Jesus gesagt hat, es komme eher ein Kamel durchs Nadelör, als ein Reicher in den Himmel (Mat 19:24). Nicht nur, weil Reichtum mißtrauisch macht, sondern weil Reichtum an Dingen ein Lebensziel ist, das gewisse geistige Ursachen hat.

Wie formulierte es Gerhard Schöne nochmal: (sinngemäß) "Da ist ein Raum, da sitzen ganz viele Leute an einer Tafel und die Teller vor ihnen sind voll gefüllt mit kräftiger Suppe. Die Menschen, die da sitzen, sind aber entsetzlich mager und kümmerlich. Warum das? Sie haben nur sehr lange Löffel, die so lang sind, daß sie die nicht in ihren Mund bekommen. - Tragisch! Die armen Menschen! Wie berechtigt ist ihre Bitterkeit über ihre missliche Lage! In einem anderen Raum ist alles im Grunde gleich eingerichtet, die Tafel, Suppe, die langen Löffel, doch die Menschen hier sind wohl genährt und man merkt an ihnen keinen Mangel wie im anderen Raum. Was ist hier anders? Sie versuchen nicht nur verzweifelt den langen Löffel in ihren eigenen Mund zu bekommen, nein, sie schieben ihren Löffel einem anderen in den Mund!"