Komplexe Ästhetik

Viele Menschen betrachten heute bestimmte Dinge als schön. Zum Beispiel der rechte Winkel gilt als schön. Aber für viele auch nur bis zu einem bestimmten Grad. "Ach, ist das ein schönes altes Haus!" - es ist ein wenig krumm und schief. Spontan erinnert sich mancher an Menschlichkeit und fühlt sich wohl. Wie aber können Gebäude so oder so wirken. Wie funktioniert überhaupt unsere ästhetische Wahrnehmung?
Unterschiedlich, sagt die Psychologie, und hat damit offenbar einmal recht. Es ist eine aufgrund ihrer Banalität schon fast nervige Binsenweisheit, daß sich über Geschmack nicht streiten läßt. Warum findet der eine schön was der andere häßlich findet? Wer baut monströse Kaufhäuser? Offenbar findet zumindest den Entwurf ja irgendjemand schön: "Ich bin gaaaaanz unheimlich groß und hart (Beton) und kalt (Stahl/Glas)!" Man kann ja offenbar persönliche Eigenschaften die eigentlich niemand mag auch als seine Stärke empfinden, zB Härte. "Man muß hart sein." (= ich meine, ich muß hart sein, damit ich durch mein Leben komme.)

So ein Mensch der meint hart sein zu müssen, um ..., ja um was eigentlich ... fühlt sich vielleicht von einem kollossalen Klotz in seinem Machtbereich quasi magisch angezogen: "Keiner mag mich aber ich bleibe hart und bleibe kalt und bleibe groß und wenn die Menschen in mich gehen verändere ich mich nicht. Und wenn jemand den riesigen Platz haben will auf dem ich mich breit gemacht habe, dann huste ich ihm was." Gebäude sind nur ein, wenn auch für den Lebensraum des Menschen recht prägender Teil. Was sagt eine rollende Blechhütte über deren Inhaber aus? Manche Leute legen sehr viel wert auf ihre Blechhütten. Mensch will sich ausdrücken. Unbewußt dürften den meisten Menschen Formensprachen und dergleichen geläufig sein. Dann gibt es auch Menschen, die fast keine Formensprache ihr eigen zu nennen scheinen. Das aber ist ihr Formensprache. These: Jeder Mensch "verwirklicht" sich in seinem äußeren Einflußbereich gemäß seinem Inneren.

Was sagt nun die hierzulande allgemein vorherrschende Formensprache aus? Was sagt ein immer schön kurzgemähter Rasen aus? Das wird selbstverständlich jeder anders sehen. Was tut man beim Rasenmähen? Man schlägt lebenden Pflanzen ihre Oberirdischen teile ab und verletzt sie so. Dabei interessiert das den Menschen entweder nicht oder er hat sich - wohl in den meisten Fällen - nie Gedanken darüber gemacht. Drückt also ein Rasenmäher aus, daß er in seinem Machtbereich keine aufkeimenden Pflanzen duldet? Was bedeutet Gras, was bedeuten Pflanzen für die Formensprache? Pflanzen sind etwas Lebendiges das wachsen will. Warum wollen Pflanzen wachsen? Offenbar weil sie leben wollen. Ein Gestaltungsraum für den sich ein Mensch zuständig, quasi verantwortlich fühlt wird für ihn zu einem Teil seiner selbst. Wenn er seine Vorstellungen damit verwirklichen kann ist er zufrieden, kann er es aus verschiedenen Gründen nicht, dann ist er unzufrieden. Was ist das Gras in uns? Ist das Gras in uns vielleicht eine Art von Lebendigkeit? Ein Grundbegriff beginnender Fruchtbarkeit?

Es hängt sicher auch damit zusammen was jemand mit seinem Rasen macht und warum er auf ihm mäht. Vor zu schnellen Psychologisierungen sollte jeder sich schon möglichst hüten. Banalistierungen a la, wer mir die Hand bei der Begrüßung kräftig gibt, der hat Elan und so weiter können auch beträchtlich in die Irre führen. Wer sich nicht ein Gesamtbild verschafft, der irrt sich schnell in beträchtlicher Weise. Wer seinen Rasen für seine Karnickel mäht, wer einen Rasen zur Ausübung von Sport und Spiel mäht, wer seinen Rasen mäht, weil man das halt macht (=weil es schön aussieht) hat jeweils total unterschiedliche Motive. Ich rede hier von Ästehtik, von dem was Menschen schön finden. Auf das Beispiel bezogen rede ich also von Menschen die ihren Rasen mähen, weil sie das schön finden und erstmal nicht von den anderen zwei Fällen, die ich eben erwähnt habe. Jemand mäht seinen Rasen, weil er das Ergebnis schön findet. Vielleicht findet auch jemand das Mähen selbst schön? Vielleicht hat jemand der seinen rasen hoch stehen läßt beruflich mit Rasenmähen zu tun und sein Rasen stellt sozusagen nur einen Aspekt seines Wirkens dar? Schon wieder erhält der Beobachter eine andere Ausrichtung für seine Hochrechnungen.

Was will man denn überhaupt noch mit diesem Ansatz, mag jetzt der eine oder andere fragen. Ich will nicht den Ansatz an sich demontieren. Ich halte ihn durchaus für sehr geeignet für diese Überlegungen. Ich möchte nur genauso sehr vor schnellen Schlüssen warnen. Meinetwegen kann auch jeder grundsätzlich den Sinn dieses Ansatzes verneinen. Ich tue das nicht.
Wiese ist Natur. In einer Wiese leben viele Tiere. Wenn man am Morgen durch eine Wiese geht bekommt man vielleicht nasse Füße. Ich habe festgestellt, daß offenbar etliche der Menschen, die aus ästhetischen Gründen sich einen kurzen Rasen halten und "Lebensbäume" und dergleichen pflanzen mit ziemlicher Arroganz erwarten, daß es ihnen alle anderen Menschen gleichtun. Manche werden sogar deutlich aggressiv, wenn man das nicht tut. Ich habe selten erlebt, daß Leute, die in ihrem Schrebergarten das Gras kniehoch stehen haben ihre Nachbarn anpflaumen, weil diese jenes ästhetische oder ideologische Ideal nicht teilen. Das spricht vielleicht auch für den Zeitgeist, aber ich vermute durchaus, daß Rasen mähen an sich etwas mit einer aggressiven Grundhaltung zu tun haben muß. Eine Wiese kann etwas Herrliches für den einen sein, der sich darin oder in deren Nähe wohl und geborgen fühlt. Eine Wiese kann für einen anderen ein Ärgernis sein, ein Pfuhl in dem sich Krankheiten und Tierplagen bilden - etwas das nicht unter Kontrolle ist und daher in unguter Weise ausufert.

Wo soll eine Wahrheit festzustellen sein, wo es offenbar nur Wirklichkeiten zu geben scheint? Ich denke Wahrheit liegt in dem, was Bestand haben kann und in dem, was lebendig ist. Bei letzterem gehe ich davon aus, daß nur ein Mensch innerlich wahr ist, wenn er innerlich lebendig ist und das Gute für tun möchte. Ein Mensch, der neben seiner Erwerbstätigkeit quasi als Lebensinhalt nur immer über andere Menschen meckert und sich wohlmöglich noch mit Drogen betäubt ist für mich in seiner Lebendigkeit eingeschränkt. Davon und von ähnlichen Gedanken ausgehend werte ich: Hat Rasenmähen etwas damit zu tun, daß jemand der Meinung ist nur überleben zu können, wenn er seine Natur verleugnet, um in die Arbeitswelt zu passen? Hat Rasenmähen etwas damit zu tun, daß jemand es nicht ertragen kann, wenn etwas ohne seinen Willen wächst und gedeiht (ist jemand nicht bereit auch auf seine Natur zu hören)?

Es fängt vielleicht bei solchen Sachen an wie mit den feuchten Füßen, die man im hohen Gras machmal bekommt. Mancher sieht darin ein Ärgernis, etwas was nicht "in (seiner) Ordnung" ist. Ein anderer fühlt sich dadurch bereichert, weil er mal wieder feuchte Füße spürt und so ein sinnliches Erlebnis erfährt. Ich will mich nicht auf das Wiese/Rasen Beispiel versteifen. Mancher der mich kennt wird sich jetzt schon sagen: Der schon wieder mit seinem Unkraut-Quatsch. Jetzt will der wohl noch psychologisch begründen, weswegen alle Leute die einen kurzen Rasen haben, Arschlöcher sind, oder was (Das wäre übrigens eine typische Kurzrasenliebenden-Reaktion, wie ich vermute)? Also mal ein anderes Beispiel. Manche Leute (die bis zu einem gewissen Grad mit den Kurzrasenliebhabern identisch sein mögen) finden rechte Winkel ganz toll und streben danach die Idee des rechten Winkels in die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen zu übertragen. Sicherlich hat der rechte Winkel grob gesagt auch eine natürliche Entsprechung in dem was wächst. Diesen rechten Winkel jetzt aber zu abstrahieren und mit langer Linie oder komplett in die Vertikale einzuführen, ist wieder etwas ganz anderes aus der naturästhetischen Sichtweise.

Naturästhetische Vorstellungen gehen davon aus, daß die Natur für den Menschen als einem Teil dieser Natur das ästhetische Ideal darstellt und die Abweichungen von der ästhetischen Sprache der Natur auch eine Abweichung von der Sprache der inneren Natur im Menschen bedeutet. ZB Feng Shui bemüht sich etwas dieser natürlichen Ästhetik anzunähern, wenn ich diese spezielle Lehre auch nicht ganz gutheißen möchte. Komplexe Ästhetik will sich dieser natürlichen Ästhetik mehr und mehr (manchmal auch nur bis zu einem gewissen Grad) annähern. Komplexe Ästhetik ist gedacht als Ausdruck inneren Reichtums, der sich nicht mit ihm zu wenig komplexer Gestaltung zufrieden geben möchte, die ihnen zu tot zu sein scheint (ich will die leicht reflektierende Perspektive hier nicht verlassen). Ich kenne einen Park, der auch als Fuß-Verbindung zwischen zwei Stadtteilen angelegt wurde. Wenn ein solches Grundstück mit diesem Hintergedanken bebaut wird, dann schlägt in unserem derzeit existierenden Gesellschaftsmodell die Stunde der Planer. Der Planer bekommt Vorlagen was er machen soll von den entsprechenden dafür zuständigen Gremien. Dann legt er los. Ein Weg soll her. Da könnte man einen linearen Weg bauen (0° komplex). Das ist auch praktisch, weil es ja die kürzestmögliche Verbindung darstellt. Da aber ein paar Grüne in den Gremien saßen wurde der Wunsch geäußert das etwas aufzulockern. Was macht der Planer? Er macht einige Schlangenlinien in den Weg. Schön symetrisch mit dem Zirkel oder dem Computerprogramm wohlgemerkt (1° komplex). Die komplexe Ästhetik geht dagegen von einem anderen Ansatz gerade auch an Landschaftsgestaltung aus. Ein komplex-ästhetischer Landschaftsgestalter kann nur ein Künstler sein und das heißt, daß in diesem Fall nicht unbedingt die Planung am Zeichentisch geschieht, sondern vor Ort und gegebenenfalls hohe Komplexitätsgrade erreicht ohne, daß jetzt die Leute dreimal durch den Park im Kreis geführt werden.

Warum das alles mag sich mancher fragen? Die Verarmung der menschlichen Lebensumwelt an dieser Komplexität führt auch zu einer Verarmung an Anregungen durch dieses Umfeld. Niedrigkomplexe Kulturraumgestaltung führt teilweise sicherlich zu niedrigkomplexen Menschen. Sicherlich machen heute durch TV und Foto die Bilder ein gewisses Komplexitätserleben aus, es bleibt jedoch ein Abbild, gewissermaßen ein Schatten sinnlich erlebbarer komplex geordneter Lebensumwelt. Komplexe Ästhetik ist etwas junges. Alte Menschen streben oft mehr nach einer Reduzierung von Komplexität. Ist es aber gut, daß dieses Bestreben des Alten so vorherrschend in die Gestaltung menschlicher Lebensräume einfließt? Das Junge, Wache will entdecken und der Phantasie freies Spiel lassen können, das Alte, Müde und Nachdenkliche hat sich oft im Laufe seines Lebens so in innere Unordnung gebracht, daß es keine Anregungen und daraus resultierende Veränderungen mag. Sollten nicht beide Aspekte in menschlichem Kulturraum zur Geltung kommen? Ich finde unsere Gesellschaftsräume sind zu sehr auf den Tod und anregungsarme oder niedriggradig anregende Ästhetik gekennzeichnet. Vielleicht liegt darin auch eine Ursache für das mangelnde Gefühl vieler Kinder für das Wissen, das die Gesellschaft ihnen vermitteln möchte? Wer braucht schon Anregungen im alltäglichen Leben, das macht die Schule schon - kann es das sein??

Wenn ich jetzt wieder auf das Beispiel des "gepflegten Grün" zurückkomme hat sich hoffentlich der Blick etwas geweitet. Was sollen wir eigentlich mit einem Haufen mehr oder weniger gekünstelter Scheinnaturparadieschen? Und noch viel mehr möchte ich fragen ob die Gesellschaft in ihrem eigenen Interesse denjenigen die sich versuchen mit Aggressivität durchs Leben zu boxen zu sehr in den gesellschaftlichen Räumen berücksichtigen darf, wenn auch freilich diese Leute sozusagen per definitionem immer am lautesten schreien, eben weil sie persönlich gescheitert sind? In diesem Sinne möchte ich diese Einleitung schließen und möchte auf die eigene Denkfähigkeit des Lesers verweisen.